Ellenerbrok-Schevemoor. Uli Beckerhoff entlockt seinem Flügelhorn ein gespenstisches Ächzen, Weinen und Stöhnen, das schließlich in der Weite des Raumes verstirbt. Es ist, als ob gerade jemand sein Leben aushauchen würde. Gespenstischer und zutiefst berührender Schlussakkord der musikalischen Soiree „Mord aus Leidenschaft“, die der multitalentierte Schauspieler und Regisseur Rainer Iwersen aus Schwachhausen, Jazz-Papst Uli Beckerhoff, die Violinistin Anna Markova, die beide aus der Neustadt kommen, und der Pianist Evgeny Cherepanov im Haus im Park bestritten. Iwersen las Auszüge aus Leo Tolstois Erzählung „Die Kreutzersonate“, die auf der gleichnamigen Komposition Ludwig van Beethovens basiert. Das Ergebnis war spannender als jeder Schweden-Krimi.
Das Team der Kulturambulanz am Klinikum Bremen-Ost hat das Thema „Leidenschaft“ zum Jahresprojekt auserkoren. Und dafür scheint die Leidenschaftlichkeit von Beethovens Musik wie gemacht. Mit geschlossenen Augen lauschte Rainer Iwersen, ganz in die Musik versunken, der bravourösen Interpretation von Beethovens „Kreutzersonate“ durch Anna Markova und Evgeny Cherepanov, der sich mit perlenden Piano-Läufen als kongenialer Begleiter am Flügel erwies und so manchen dramatischen Aufgalopp des Duos initiierte. Anna Markova lotete im schulterfreien, feuerroten Abendkleid die furiose Dramatik des zutiefst zerrissenen Schmerzes, den sich Beethoven mit der „Kreutzersonate“ von der Seele schrieb, mit beseelter Melancholie, dann wieder jubilierend und schließlich in zartesten Pianissimo-Tönen aus. Eine Interpretation von höchster, künstlerischer Empfindsamkeit. Die Musik wirbelte schließlich immer schneller, immer schneller im Prestissimo in einem Walzer-Rhythmus herum. Ein Spiegel auch der unglücklichen Liebesbeziehung, die Leo Tolstoi in der „Kreutzersonate“ beschreibt.
Erregung von Gefühlsenergie
Immer wieder umspielte ein Lächeln Iwersens Lippen. Der große Schauspieler und Shakespeare-Übersetzer lebte Tolstois Text förmlich mit jeder Faser seines Körpers und fragte zu Beginn des zweiten Konzertteils: „Kennen Sie das Presto?“ um dann gleich darauf einzuräumen: „Ach, Sie haben es ja gerade eben gehört!“ Und mit diesem Presto könnte man sagen, nahm das Unglück seinen Lauf. „Von wegen Musik erhebt die Seele, das ist ja Blödsinn! Dieses Presto diente allein der Erregung von Gefühlsenergie. Das kann verderblich wirken! Und so nahm die Katastrophe ihren Lauf. Meine Frau, die geachtete Familienmutter und dieser Mietling von einem Musiker! Sie spielten ‚Die Kreutzersonate‘ zusammen voller Hingabe“. Rainer Iwersen fühlte sich in die Emotionen der einzelnen Charaktere empathisch ein und schlüpfte in die Rolle des Protagonisten Podnyschew, der, von rasender Leidenschaft getrieben, schließlich zum Mörder aus Leidenschaft wird. „Der Teufel gab mir diese Bilder ein. Ich litt unsagbar“, jammerte er weinend. Höhepunkt und Schlussakkord, an dem nur noch ein gespenstisches Weinen und Stöhnen zu vernehmen war, welches Uli Beckerhoff gleichsam als Requiem für die Ermordete intonierte. Gefolgt von einem trotzigen Aufstampfen und Schnauben.
Aber auch den eskalierenden Rosenkrieg zwischen Podnyschew und seiner Frau lebte Rainer Iwersen zuvor leidenschaftlich gestikulierend auf der Bühne vor. „Der Teufel gab mir diese Bilder ein“, jammerte er als Podnyschew. Die Bilder der Eifersucht plagten ihn auch auf einer Dienstreise, die er schließlich frühzeitig abbrach, um nach Hause zurückzukehren, wo er seine Frau und deren Liebhaber in flagranti erwischte. Zuvor hatte er noch, außer sich vor Wut, überlegt, aus dem Zug zu springen. Ein immer wiederkehrender Topos in Tolstois Werken, schließlich warf sich auch schon die unglücklich liebende Anna Karenina vor den Zug.
„Ich hatte solch einen Hass gegen meine Frau und fasste den Beschluss: Sie ist kein Mensch, sie ist eine räudige Hündin. Sie soll leiden!“, schrie Iwersen alias Podnyschew, „ganz toll vor lustvoller Raserei“ und, erschreckend genug, fügte er schwer atmend hinzu: „Ich hatte ein zweifelloses Recht auf ihren Körper, obwohl ich wusste, dass das der reine Wahnsinn war“. Hier ist Tolstoi, nach über 100 Jahren noch beklemmend aktuell. Auch heute noch gibt es genügend Machos mit patriarchalen Allüren, die das Recht, über den Körper ihrer Partnerin bis zum bitteren Ende zu bestimmen, für sich reklamieren. Uli Beckerhoff kommentierte das mit schneidend scharfen Tönen des Horns und ließ sie in einem Keuchen kulminieren, Spiegel von Podnyschews Seelenqualen. Im zweiten Teil des Abends entlockte er seinen Instrumenten wie Horn, Trompete und Synthesizer immer wieder ein atmosphärisches Pfeifen und Klirren. Und er deutete mit seiner Sound-Collage das grausige Ende an: Auf seinem Synthesizer verfremdete er grollend sanfte Klaviermusik, die er schließlich zischend entgleisen ließ, bis nur noch ein vereinsamtes, eisiges Wehen übrig war. Zuweilen klang die Soundbox wie eine Gewehrsalve.
Podnyschew erdolchte seine Frau brutal mit einem Damaszener-Dolch und stritt die Tat mit Realitätsverlust und mit glasigem Blick ab: „Es ist nichts geschehen!“ Schon das Kennenlernen der einstmals Liebenden, wie es Tolstoi schilderte, ist verräterisch: Podnyschews Ziel bestand darin, lediglich ein „keusches, junges Mädchen, das meiner würdig wäre, auserwählen zu wollen“, während er selbst alles andere als keusch gelebt hatte. Die Schwierigkeiten beginnen bei Tolstoi wie im richtigen Leben dann, als das „keusche, junge Mädchen“ einen eigenen Kopf und damit ein eigenes Leben zu entwickeln begann. Und schon bald nach den missglückten Flitterwochen schlug die Beziehung in giftige Feindseligkeit und Kälte um. Mehr noch: Der Besitz von Kindern habe das Leben ganz und gar vergiftet. Es entwickelten sich sogar regelrechte Schlachten um die lieben Kleinen. „Das soll Liebe sein, der Bund der Seelen?“ fragte sich der Protagonist grimmig knurrend und schlug die Hände entsetzt über dem Kopf zusammen. Eine unglückliche Liebe, die schließlich in einem Mord aus Leidenschaft endet.
Weser-Kurier am 26. Oktober 2017